Als Lara und ich zusammen aufwuchsen, war es noch absolut selbstverständlich, dass jeder Hundehalter lernen musste, ein „Alpha“, „Rudelführer“, „Leithund“ – oder wie auch immer betitelter Herrscher über den Willen des Hundes – zu sein.
„Artgerechte“ und „gewaltfreie“ Strafen, wie der „Schnauzengriff“ oder „Alphawurf“, gehörten zum Alltag in der damals modernen Hundeerziehung.
Ich vertraute auf meine Bücher. Ich war perfekt informiert über jedes nur erdenkliche Ritual, dass dazu beitragen sollte, dem Hund seinen niederen Platz in der Rangordnung klarzumachen. Ich wusste genau, wie sich ein idealer Rudelführer verhielt und welche Sanktion auf welche Regelübertretung hin angemessen war.

Ich aß zuerst, schritt zuerst durch die Tür und konnte sowohl Futter als auch Spielzeug für mich einfordern, wann immer ich wollte.
Aber ich wunderte mich schon früh, wieso mein Hund so gar keine Anstalten machte, die Rudelführung zu übernehmen. Sogar die Pubertät schien meine Hündin komplett zu überspringen.
Ich war immer bereit, sie auf ihren Platz zu verweisen und sie war immer bereit, mich auf so eine Situation warten zu lassen. Als ich schließlich die Rangordnungsrituale aus unserem Alltag strich, änderte sich: gar nichts.
Ich war überrascht, führte das jedoch auf eine besondere Unterordnungsbereitschaft meiner Hündin zurück.

Keine Rudelführer: Lara und Lara

Keine Rudelführer: Lara und Lara

Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, mein allgemeingültiges Wissen von Rangordnung und Rudelführertum in Frage zu stellen.
Wieso auch? In dieser Hinsicht war man sich doch unter „Profis“ vollkommen einig. Und die dazugehörigen Erklärungen klangen so simpel wie logisch.

Als ich das erste Mal mit der Behauptung konfrontiert wurde, der Hund sähe im Menschen keinen Rudelführer, sondern einfach nur einen Menschen, reagierte ich spöttisch.
Genauso spöttisch wie es jetzt die Menschen tun, denen ich das zum ersten Mal sage.
Ich konnte es seinerzeit nicht dabei belassen. Ich begann nachzuforschen.

Die Dominanztheorie

Die Dominanztheorie besagt, dass Wölfe (und daher aufgrund ihrer nahen Verwandtschaft auch Hunde) natürlicherweise eine strikte Rangfolge bilden, in der sich ihr Rudel strukturiert.
Es werden diverse Rituale beschrieben, die diese Rangfolge verdeutlichen und festigen sollen.
Hund und Wolf streben, laut dieser Theorie, seit dem Tag ihrer Geburt eine erhöhte Rangposition an. Hunde könnten nur dann glücklich sein, wenn ein fähiger -menschlicher- Anführer ihr Leben bestimmt, so die Theorie.
Bei unklaren oder falschen Verhältnissen in der Rangordnung komme es zu auffälligem Verhalten und Aggressionen. Auch Ressourcen- und Revierverteidigung wurden als dominantes -und daher inakzeptables- Verhalten eingestuft, das durch konsequente Strafen zu ahnden sei. Man müsse dem Hund, gegebenenfalls auch körperlich, Grenzen setzen um ihn in seinen niedrigen Rang zu verweisen.

Lücken in der Dominanztheorie

Hier finden sich jedoch schnell zahlreiche Fehler.
1. Der erste Fehler ist auch der größte: Wölfe verhalten sich in ihrer natürlichen Umgebung nicht so, wie die Dominanztheorie es beschreibt. Freilebende Wölfe bilden keine starren Hierarchien. Freilebende Wolfsrudel sind nichts anderes als Familien, in der Regel bestehend aus den Eltern, den Welpen aus dem letzten Jahr und dem aktuellen Wurf. Die Autorität der Elterntiere hat keinen anderen Ursprung als den, dass sie nun mal die Eltern sind. Sie sind älter, erfahrener und kümmern sich fürsorglich um ihren Nachwuchs. Sie begegnen einander freundlich und liebevoll.

2. Woher kommt also die Beschreibung des Wolfsrudels samt Hierarchie?
Gehege-Wölfe, die in der Regel aus nichtverwandten, zusammengesetzten Wölfen bestehen, und keinerlei Gelegenheit haben, abzuwandern, bilden Hackordnungen wie die beschriebene Rangordnung aus. Das tun sie aber nicht, weil es ihnen damit so übermäßig gut geht, sondern weil sie ihr natürliches Verhalten in der künstlich geschaffenen Gehege-Situation nun mal nicht anwenden können.

3. Wir wissen also bereits, dass die Rangordnungsbildung nur bei gefangenen Wölfen überhaupt ein Thema ist. Was aber ebenfalls relevant ist – Hunde sind keine Wölfe.
Hunde sind Hunde. Sie sind seit zehntausenden von Jahren an unserer Seite – und genauso weit entfernt vom heutigen Wolf, der mit dem damals lebenden Wolf nur noch wenig gemein haben dürfte.
Auch wenn Hund und Wolf ein ähnliches Aussehen, Ausdrucksverhalten und so einige identische Gene teilen, dürfen wir nie vergessen, dass sie eine eigene Unterart darstellen, und entsprechend isoliert vom Wolf betrachtet werden sollten.

4. Dominanz ist keine Charaktereigenschaft, sondern beschreibt ein Verhalten innerhalb einer -innerartlichen- Beziehung. Schon alleine deshalb ist es unmöglich, zwischen Mensch und Hund eine Dominanzhierarchie zu etablieren.

5. Es ist fraglich ob Hunde überhaupt fähig sind, so komplexe Ideen wie die eines definierten Rangstatus gegenüber anderen Individuen zu erfassen.

6. Unabhängig von alldem waren es noch nie Strafen, die einem Individuum Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen eingeflößt haben. Wieso also sollte sich ein bestrafter Hund bereitwilliger in meine Obhut begeben?

Anbei ein Wort zum Thema Strafen

Besonders die Dominanztheorie lebt wie keine andere davon, den Hund zu strafen.
Jegliches „dominante“ Verhalten des Hundes solle man via Strafen unterdrücken – angefangen bei dem Versuch, das Sofa zu erklimmen, bis hin zum Anknurren anderer Hunde.
In diesem Zusammenhang wurden meist positive (hinzufügende) Strafen empfohlen. Positive Strafe bedeutet, etwas für den Hund unangenehmes hinzuzufügen. Das können Schmerzen sein (Leinenrucke, Schläge, Schnauzengriff), Schreckreize (Zischlaute, plötzliche laute Geräusche, Wasserstrahlen), Drohreize (Anschreien, Anknurren, den Hund packen und fixieren) oder alles andere, was dem Hund unangenehm ist.
Ich halte überhaupt nichts davon, positive Strafen zu verwenden, da sie das Lernen eher behindern, als es zu fördern.
Wie beim Belohnen auch, weiß der Hund im ersten Moment nicht, was genau den Strafreiz ausgelöst hat. Er verknüpft jedoch absolut alles, was in dem Moment um ihn herum ist, mit der unangenehmen Erfahrung. Da Strafen den Hund verunsichern und Stress auslösen, werden häufig gestrafte Hunde auch eher aggressiv reagieren, als Hunde, die ohne positive Strafreize erzogen werden. Aggression entsteht allzu oft durch Frust und Unsicherheit, die wir Menschen selbst ausgelöst haben.
Auch sind Fehlverknüpfungen und daraus entstehende neue Verhaltensprobleme, durch positive Strafen, nicht unüblich. Ein typisches Beispiel ist der Teufelskreis des Leinenpöblers, der gelernt hat, den fremden Hund durch laustarkes „pöbeln“ (bellen, knurren, drohen) fernzuhalten, um der Strafe zu entgehen die aus seiner Sicht erfolgt weil der andere Hund sich nähert. Der zugehörige Mensch hingegen hat gelernt, dass seine vorherigen Strafen wohl zu lasch waren, denn der Hund zeigt das unerwünschte Verhalten ja immer noch. Fertig ist die perfekte Fehlverknüpfung.
Wer unbedingt positive Strafen einsetzen möchte, halte sich wenigstens an die Regeln bei der Anwendung von Strafe.

Mächtig und dominant

Jederzeit bereit, niemanden zu dominieren: Die Laus

Wenn nicht Rangordnung, was dann?

Nachdem ich damals realisieren musste, dass mein altes Wissen um Rudelführung und Rangordnung falsch war, stellte sich mir vor allem eine Frage – wenn nicht so, wie denn dann?
In meinem Kopf war ein Vakuum entstanden, da wo vorher mein Verständnis der Mensch-Hund Beziehung gewesen war. Ich begann, es Schritt für Schritt erneut zu füllen.

Was braucht ein Hund, der mit seinem Menschen zusammenlebt?

1. Er braucht eine gemeinsame Ebene der Verständigung.
Die kann ich schaffen…
…indem ich das Verhalten belohne, das mir gefällt.
…indem ich Rücksicht nehme auf die Anzeichen von Stress und Abwehr, die mein Hund mir zeigt.
…indem ich seine Kreativität fördere, statt Fehlverhalten zu bestrafen.
…indem ich meine Erwartungen den Fähigkeiten und Vorlieben meines Hundes anpasse.

2. Er braucht jemanden, der für sein leibliches und geistiges Wohl sorgt.
Das kann ich tun…
…indem ich ihm Wasser, Futter, ein Dach über dem Kopf, körperliche und geistige Auslastung, medizinische Versorgung sowie Sozialkontakte zu Menschen und Hunden ermögliche.

3. Er braucht jemanden, der ihn versteht.
Das kann ich gewährleisten…
…indem ich mich mit Körpersprache, Sozialverhalten und Bedürfnissen des Hundes vertraut mache.
…mein Wissen aktuell halte.
…Forschungsergebnisse lese.
…Quellen kritisch hinterfrage.
…und nie aufhöre, mich weiterzubilden.

4. Er braucht jemanden, der ihn beschützt.
Das kann ich tun…
…indem ich die Umgebung meines Hundes kontrolliere.
…die Wohnung hundesicher gestalte.
…Hundekontakte nicht „auf gut Glück“, sondern abgewogen zulasse.
…ihn vor Witterung und Wetter schütze.
…ihm einen sicheren Umgang mit der Umwelt vermittle.
…ihn vor Verkehr und Verkehrsteilnehmern schütze.
…ihm einen zuverlässigen Rückruf beibringe.
…dafür sorge, dass auch andere Menschen seine Bedürfnisse respektieren.
…ihn angemessen sichere, wenn wir reisen.

5. Er braucht jemanden, der ihn liebt.
Unsere Hunde binden sich stark an uns und sind in der Lage, sehr viel zu ertragen und zu verzeihen. Das sollten wir uns von ihnen abschauen.

Soviel zu den Bedürfnissen des Hundes. Aber was genau bedeutet das für uns?
Ich habe die Antworten gefunden:

Ich muss Freund sein, nicht Rudelführer.
Ich muss den besseren Vorschlag machen, nicht befehlen.
Ich muss Ressourcen verwalten, nicht verteidigen.
Ich muss konsequent sein, nicht streng.
Ich muss kein Alphahund sein.
Nur der beste Mensch auf der ganzen Welt.

Quellen
Dominanz und Rangebeziehungen beim Hund, abgerufen am 24.08.2021
Dominanz – Mythos oder Realität?, abgerufen am 23.01.2018
Dominance: Reality or Myth, abgerufen am 18.08.2018
Dominanz als widerlegte Erklärung von Hundeverhalten, abgerufen am 23.01.2018
Why dog trainers will have to change their ways, abgerufen am 23.01.2018
Dominance in domestic dogs: A response to Schilder et al. (2014), abgerufen am 23.01.2018
John Bradshaw, Hundeverstand, Kynos Verlag, 2015
Elli H. Radinger, Die Weisheit der Wölfe, Ludwig Verlag, 2017